Facebook, das Dorf in uns

erschienen im "Alligatore Magazine", Dezember 2011

von Johannes Kram

Wir brauchen eine Sicht auf Facebook, die trennt zwischen der Seite selbst und den von ihr belebten Kommunikationsprinzipien. Diese sind stärker als Facebook selbst und werden mit und ohne das Zuckerbergsche Web überleben.

Facebook ist sehr viel mehr als ein reines Kommunikationsmedium zwischen Menschen, aber im Kern ist es genau das. Es scheint so banal, dies aufzuschreiben, und doch so notwendig, da Facebook immer weniger als Medium, sondern als ein eigenständiger Ort beschrieben wird. Ein mysteriöser Ort der kommerziellen Verführung und der allgegenwärtigen Gefahr, der privaten Entäußerung und Sucht, zumindest aber ein Platz der Zeitvernichtung und des Zerfalls der guten kommunikativen Sitten.

Fast schon ein moderner Klassiker ist die Pointe der Internetkulturpessimisten, dass man so viele Freunde wie bei Facebook in „echt“ ja gar nicht haben kann. Oder der Hinweis, dass man, wenn man Freunde treffen wolle, dies doch im „richtigen Leben“ viel besser könne. Was natürlich wahr, aber genau so auch Blödsinn ist.

In den 70er Jahren, als das Festnetz in Deutschland noch nicht Festnetz hieß, sondern Telefon, konnte man billig und ohne Zeitbegrenzung telefonieren. Damals quatschen Nachbarn stundenlang mit ihren Nachbarn, bis ein anderes Familienmitglied sich mit seinem Anspruch auf das Telefon durchsetzen konnte. Das lag natürlich an der „Flat“ für den Ortsbereich, jedoch zwang diese die Leute ja nicht, ihre Nachbarn statt in „echt“ mit dem Telefon zu besuchen.

Im Prinzip findet das Gleiche heute auf Facebook statt. Die meisten Interaktionen erfolgen zwischen Menschen, die auch „real“ befreundet sind, und die in der Nähe leben. Facebook scheint also gar kein neues Bedürfnis geschaffen zu haben, sondern ein schon lange vorhandenes zu bedienen. Natürlich in einer ganz neuen Dimension und mit ganz neuen Optionen. Die Möglichkeit, alte Freundschaften wieder- und neue aufgrund gemeinsamer Interessen zu finden, mit mehreren gleichzeitig und ohne Mühe über Entfernungen hinweg zu teilen, haben etwas generisch völlig Neues geschaffen.

Doch viele der Grundprinzipien, die die Faszination Facebook ausmachen, sind die, die eine Renaissance alter Muster darstellen. So wie das Prinzip der Niederschwelligkeit. Das bedeutet, dass man mal soeben seinen Senf dazu geben kann, ohne darüber gleich ein Gespräch führen zu müssen, oder auch andersherum: ein Gespräch auch ohne echten Grund führen zu können.

Es ist trivial, doch sind es die Nebensächlichkeiten, das vermeintlich Belanglose, das Menschen aufeinander aufmerksam macht und ins Gespräch und oft auch zusammen bringt. Zufälliges und Situatives, nichts, weswegen man sich besuchen oder anrufen würde.

So wie früher auf dem Dorf. Schöne neue Blumen haben sie da in ihrem Vorgarten. Haben Sie schon die neuen Angebote beim Metzger gesehen? Kennen Sie eigentlich die neu Zugezogenen am Ende der Straße? Dass der Bus immer zu spät kommen muss …

Die Typisierungen scheinen sich zu gleichen. In Facebook wie im „echten“ Dorf von damals gibt es, die, die jeden ansprechen, die zu allem was zu sagen haben, die einfach nichts verpassen wollen, und die, die einfach nur dabei sein wollen. Und dann gibt es die „Späher“, die sich immer alles ganz schön angucken, alles wissen wollen, aber selten etwas selber beitragen und preisgeben möchten. „Fensterln“ nannte man das früher. Heute wie damals ganz schön unangenehm.
 

„Kontakt halten“ und „Sich im Blick halten“ sind zwei verschiedene Dinge. Menschen in der Großstadt müssen Kontakt halten, um in Kontakt zu bleiben. Auf dem Dorf behielt man sich dagegen sowieso im Blick, schon weil man gar nicht voreinander weglaufen konnte. So ergab sich dort eine Selbstverständlichkeit, viel miteinander zu teilen, ohne viel dafür tun, aber auch ohne sich zu nahe kommen zu müssen. Man bekommt sie einfach mit, das neue Haus, den neuen Job, die New Kids in Town. Es ist eben nicht nur Voyeurismus, wenn man denen auf das Grundstück schaut, mit denen man irgendwie verbunden ist. Es hat auch etwas mit Identifikation, Ansporn, aber auch mit Sicherheit zu tun.

Facebook hat dieses Prinzip der passiven Beziehungspflege in eine urbanisierte Welt hinüber gerettet, wo jeder es so nutzen kann, wie er will. Man kann die Intensität aber auch den Radius selbst bestimmen. Die Anzahl der Freunde beschreibt die Größe des Radius. Sonst nichts.

In einem Dorf von 500 Menschen hatte jeder mit jedem irgendeine Form von Beziehung, auch wenn diese einfach nur daraus besteht, dass man sich kennt, weil man im gleichen Dorf lebt, auf die gleiche Schule, oder zum gleichen Bäcker geht. Facebook vergrößert diesen Radius nicht, er macht ihn nur qualifizierter. Gleiche Interessen finden sich. Nähe und Abstand werden nicht in Kilometern gemessen. Es scheint, als ermögliche Facebook eine eine Synthese, die den sozialen Kitt des Dorfes mit der Errungenschaft der Stadt (nämlich die des Schutzes vor sozialer Kontrolle) miteinander vereint.

Die Facebook- Prinzipien bringen uns nicht nur eine neue Kommunikationskultur, sondern führten auch uns zurück in eine alte. Wir immigrieren in unsere kollektive Vergangenheit. Social Media Strategen und Manager wollen uns eine neue Welt erklären und nutzbar machen. Eigentlich müsste es aber darum gehen, Tradiertes und Erprobtes neu zu entdecken und zu verstehen. 

 

Johannes Kram ist Autor und arbeitet in Werbung und PR als strategischer Konzepter